Horst Hoheisel
Rollen der Erinnerung Papel de Memória
[Sao Paulo 2003]
Zeichnungen von Horst Hoheisel werden zum erstenmal im Museo Lasar Segall,
Sao Paulo, Brasilien gezeigt. Ausstellung vom 11. Oktober bis 21. September 2003
Deutschland und der Holocaust sind weltweit zum Paradigma geworden für die Notwendigkeit, dass sich eine Nation intensiv mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt. Welche Bedeutung hat Erinnerung für die Zukunft unserer Gesellschaft, und welche Rolle spielt die Kunst in diesem Kontext? Keiner wird bezweifeln, dass Deutsche in einer post-traumatischen Gesellschaft leben, und dass Künstler an der Auseinandersetzung mit den Wunden der Vergangenheit selbstverständlich mitwirken.
Horst Hoheisel ist einer dieser Künstler, die ihren Blick auf die Wunden der Vergangenheit gerichtet haben. Auf Einladung von Marcelo Araujo und Lorenzio Mammi hat er in den vergangenen Monaten zusammen mit Andreas Knitz in São Paulo zwei Projekte verwirklicht, die sich auf brasilianische Wunden beziehen, die jung und schmerzhaft sind: In der Pinacoteca do Estado haben sie das Eingangsportal des Gefängnisses Tiradentes im Maßstab 1:1 als Vogelkäfig nachgebaut, und im Universitätszentrum MariAntonia haben sie Teile des Gebäudes, die noch an seine Zeit als intellektuelles Zentrum des Widerstands gegen die Militärdiktatur erinnern, vor der Einebnung durch »Instandsetzung« bewahrt.
Horst Hoheisel hat Brasilien nicht von einer Bar am Strand Copacabana in Rio und auch nicht von der Terrasse des Edifício Itália in São Paulo aus kennen gelernt. Horst Hoheisel hat Brasilien vom unzugänglichen Regenwald der Yanomani aus kennen gelernt. Ein ursprüngliches Brasilien, das selbst die meisten Brasilianer nie erlebt haben. Als Pfeilspitzen der Erinnerung bringen seine Zeichnungen im Museu Lasar Segall die gefährdete Welt der Yanomani in unser Bewusstsein. Aber in diesen Zeichnungen gibt Horst Hoheisel auch seinen persönlichen Assoziationen, seiner eigenen Welt freien Lauf. Mit den Pfeilspitzen der Yanomani lernen wir auch den Künstler Horst Hoheisel kennen.
Tausende von Zeichnungen hat Horst Hoheisel geschaffen, und offenbar keineswegs mit der Absicht, sie in einem Museum auszustellen. Im Gegenteil, sie sind fast »unausstellbar«, ein unzugänglich aufgerolltes künstlerisches Tagebuch in Form gewaltiger Papierwalzen, Rollen der Erinnerung.
Joachim Bernauer
Ein grosser Teil der künstlerischen Arbeit Horst Hoheisels ist dem Unsichtbaren oder dem nicht mehr Sichtbarem, gewidmet . Der Sinn liegt nicht darin, es an die Oberfläche und Gegenwart zu bringen – was nur eine tröstliche Tat wäre. In Horst Hoheisels Werk ist es dagegen das Verschwinden an sich, dessen Bedeutung an Dichte gewinnt.
Es zwingt den Betrachter das Bild im Gedächnis zu erhalten, was wertvoller ist als das blosse materielle Dasein. Die in Deutschland projektierten und teilweise angefertigten Anti-Monumente [viele davon in Zusammenarbeit mit Andreas Knitz] sind viele Versuche den Verlust eines Gefühlsbandes festzuhalten: der umgekehrte und in den Boden eingeschlagene Brunnen in Kassel, hohl, genaues Negativ des zerstörten Brunnens; das halb versteckte, im Rasen vergessene Schild in Auschwitz, wo für kurze Zeit ein misslicher Gedenkobelisk existiert hat; der geplante Abriss der Sünden am Brandenburger Tor, usw.
Aus dieser selben Sicht, des Verschwindens und Gedenkens, müssen Horst Hoheisels Zeichnungen gelesen werden. Zunächst hatten sie eine fast therapeutische Funktion: jeden Tag, vor der Arbeit Aufzeichnungen zu machen, von Erinnerungen, oder fast unlesbaren Erinnerungsschatten.
Rückstände von Träume der vorherigen Nacht, nicht klar erklärbare flüchtige Eindrücke.
Diese Aufzeichnungen sind auf grossen Rollen oder in Hefte geordnet, einzeln datiert, geben den Eindruck nicht zueinander zu gehören, handeln jedoch von Motiven die identifizierbar sind, durch Analogien, Ähnlichkeiten und Zurückgreifen.
Die Rolle, mehr noch als das Heft, ist wahrscheinlich das vollkommenste Bild der Bezie-hung jeder Zeichnung mit dem Ganzen. Wegen ihres grossen Umfangs ist es unmöglich sie vollständig auszurollen. Was man sieht ist immer ein Teil, ein sehr reduziertes Segment einer komplexen Konfiguration, deren grösster Teil in den beiden imponenten Zylindern, die das freigelegtes Papier umrahmen , eingegraben ist. Diese Rollen sind schon selber ein Zeichen – so rätselhafte Figuren, wie die Zeichnungen die sie bergen.
Die Suche nach einem Stil ist nicht in Horst Hoheisels Strich zu erkennen, schon gar nicht nach einm einzigen Stil. Da aber der Stil selber eine Tat des Gedächnisses ist, ist in ihm die Erinnerung vieler Stile: der Romantik, des Symbolysmus, des Expressionismus.
An Redon, Dix, Beuys. Alle Bilder wirken weniger als Formen , sondern wie Wörter einer unterbrochenen Erzählung .Wenn der Ölstift den Graphit überlagert, funktioniert er als.Verdeutlicher oder als Dämpfer: hebt ein Detail in der Beschreibung hervor oder versteckt ein anderes im undeutlichen Nebel. Zum Beispiel verwechselt sich das Schädeldach eines Gesichts mit geschlossenen Augen [ein Schlafender?] mit dem Umriss eines Berges [und hier verdeutlicht der Ölstift die geraden Hänge über der Wölbung der gebogenen Stirn]. An der Spitze lässt eine fleischige Öffnung eine goldene Masse hervorscheinen, die wie Münzen oder Goldsteinchen aussehen. Zwei Seiten oder zwei Tage weiter trägt ein unförmiges Gesicht eine vollkommen goldene Stirn. Auf der nächsten Seite, ein schlafendes Antlitz. Ein Selbstbildnis vielleicht. Dieses ist fast vollständig mit einer weissen Gestalt verdeckt, die an den Berg der vorherigen Zeichnung erinnert, aber in zahlreiche Facetten aufgelöst ist. Wie ein Kristall. Von dem Gold scheint nur noch ein gelber Schimmer aus einer Spalte.
Da ist ein Schatz, der sich manchmal offenbart, manchmal untergeht und entkommt. Man muss ihn eingefangen und im Gedächnis halten, um dann weitergeben.. Zu diesem Kreis der halben Worte gehören wir alle.
Lorenzo Mammi
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