Wir warten auf den Bus (2006) Drucken E-Mail
Ein Text zum Mahnmal Weissenau für die Opfer der Euthanasie-Aktion 1940/41



wir warten auf den bus

wir alle kennen den fahrplan
und trotzdem sollten wir fragen
wo fährt die erinnerung eigentlich hin?
wo steht das gedenken und denken?
wo bringen die uns eigentlich hin?
wir warten auf den bus
und sitzen längst drin
im bus der geschichte
fahren mit höchstgeschwindigkeit durch die gegenwart
nehmen die vergangenheit nur verschwommen wahr
als ob die scheiben beschlagen wären
milchglasscheiben, denen drinnen und draußen egal ist
weil man doch eh nicht recht durchschaut
weil das doch alles schon so lange her ist
und weil einige sagen, das müsse doch endlich auch einmal vorbei sein
aber geschichte ist eben nicht einfach mal vorbei
die schwarzfahrer der moral kommen nicht mit bußgeld davon
und wie ist das eigentlich mit leuten, die einfach mal auf einer liste stehen
manche wollen einfach nur rote busse, blaue busse oder graue busse sehen
aber wie viele busse fahren eigentlich täglich durch deutschland?
wer sitzt drin? wer fährt wohin? wer kommt zurück? und wer denkt zurück?

statistiken werden geführt, platzhalter für gedanken
rhetorische formeln für denken und gedenken
da werden schwerbeschädigtensitzplätze freigehalten
mithilfe von schildern und belegen und listen und nummern
und wenn du da einsteigst bist du selbst nur noch eine nummer
ein code, der eben nicht mit einem gesellschaftlichen mythos zu entschlüsseln ist
wie dem von der gnade der späten geburt
es gibt keine gnade der späten geburt
geschichte ist eine bewegung und ein prozess
geschichte gilt einfach für alle, gilt solange es menschen gibt
und wer nach sterilen routen und plänen verlangt
müsste trotzdem ersteinmal sagen können wo endstation sein soll
wo willst du raus und wo musst du raus?
und wie weit willst und würdest du gehen?
für die karriere, für gutes geld, konsum und erfolg
für die obrigkeit, deine ideologie oder dein land

da werden mythen zu vergangenheitsbewältigung verklärt
verrohung, gewöhnung und verdrängung bekommen freifahrtsscheine
jeder kann auf einen knopf drücken, die geschichte hält und man steigt aus
und kann einfach mal von sich behaupten, von nichts gewusst zu haben
als ob man nicht einmal wüsste, was ein bus ist
als ob man das denken abstellen könnte, wenn man irgendwo einen bus sieht
doch denken und gedenken sind nicht abschaltbar
sind eben keine stimmen von den hinteren plätzen
bitte während der fahrt nicht mit dem fahrer sprechen
heißt es immer in massenverkehrsmitteln und beim massenmord
und jeden tag fahren busse durch deutschland
tagtäglich, ganz normal, wie immer und überall
hier und da, landauf, landab, pünktlich nach fahrplan
im abgasnebel der geschichte
in den reifenspuren von opfern und tätern

das gedenken hat seine orte, haltestellen
es wartet auf den bus
wartet darauf, dass menschen denken