MariAntonia/MemoriAntonia Janelas da Memoria [Sao Paulo 2003]

Hoheisel & Knitz

 

 

MariAntonia / MemoriAntonia Janelas da Memoria

 

Exhibition: MariAntonia / Goetheinstitut Centro Universitario da USP 18. September – 19. Oktober 2003


 

 


Katalog: re-FLEX-o Memoria Sao Paulo ab April 2004/release April 2004


 

 


 


Essay: Horacio Gonzales, Rosario, Argentina

 


 

Eine Ausstellung von Fulvia Molina, Marcelo Brodsky, Andreas Knitz und Horst Hoheisel

Erinnerung braucht den Kontakt mit den Dingen. Wir finden zufällig ein lange vergessenes Spielzeug aus unserer Kinderzeit auf einem Dachboden und im gleichen Augenblick fallen uns Kindheitsgeschichten aus unserem Elternhaus ein, die wir lange vergessen hatten.
 

Sao Paulo, Stadt ohne Erinnerung? Das war die Frage, auf die wir gemeinsam mit Künstlern und Kunststudenten in Sao Paulo in einem Workshop nach künstlerischen Antworten suchten. Der Workshop fand parallel zu dem internationalen Kolloquium The Art of Memory im Goetheinstitut Sao Paulo [September 2001] statt. Eine Studentin brachte zum ersten Treffen eine leere Filmdose mit und sagte, ihre Erinnerung an Sao Paulo sei wie diese leere Filmdose. In ihrer Erinnerung gäbe es keine Bilder aus der Vergangenheit dieser Stadt. Die Menschen in Sao Paulo würden nur im Heute leben. Die Vergangenheit wird sofort vergessen.

Obwohl viele Freunde uns sagten, man erinnere sich nicht, fanden wir im Kulturzentrum Maria Antonia der Universität von Sao Paulo Bilder der Erinnerung . Es waren Bilder von Barrikaden, Bilder vom Kampf der Studenten gegen die Militärdiktatur aus dem Jahr 1968, aufgereiht im Flur, der zum Büro des Direktors führt.
Damals waren die Gebäude in der Rua Maria Antonia die philosophische Fakultät und das Zentrum des Kampfes gegen die Militärs. Diese beschlagnahmten die Gebäude und richteten dort eine Koordinationsstelle für Gefängnisse ein. Nach der Militärdiktatur bekam die Universität die Gebäude zurück und nutzt sie heute als Kulturzentrum. Eines der zurückgegebenen Gebäude stand bis 2003 leer und hatte die Spuren aus der Zeit von 1968 und der anschließenden Militärdiktatur bewahrt. So gab es dort noch Stapel von Akten aus der Diktaturzeit. Die Tauben, einzige Bewohner der verlassenen Räume, haben die Akten zerfressen und in Taubenkot verwandelt. Im Juli 2003 ist das Gebäude zum größten Teil abgetragen worden und hinter der restaurierten alten Fassade entsteht ein Erweiterungsbau des Kulturzentrums MariAntonia. Wir haben im März 2002 einzelne Objekte, Wand- und Bodenteile mit ihren historischen Erinnerungsspuren in dem Gebäude ausgewählt, herausgetrennt und konserviert.
Als Kunst- und Erinnerungsstücke werden diese Objekte Teil der Ausstellung. Durch das Ablösen der Objekte von ihrem authentischen historischen Ort und ihrer künstlerischen Umformung werden die Dinge aus MariAntonia zu Gegenständen der Kunst ohne dabei ihre Wirkung als Gegenstände der Erinnerung einzubüßen. Im Gegenteil: die Fremdheit der Objekte im Ausstellungsraum provoziert beim Betrachter die Frage nach dem Ort, woher diese Dinge kommen und welche Geschichte in ihnen festsitzt.
Diese Geschichte wird von Zeitzeugen, von ehemaligen Studenten erzählt, die 1968 hier gegen die Militärdiktatur gekämpft haben. In das verlassene Gebäude der ehemaligen philosophischen Fakultät MariAntonia , in dem nur noch Tauben lebten, haben wir im März 2002 Zeitzeugen eingeladen und sie gebeten am Ort der Geschichte ihre Geschichten, ihre Erfahrungen von 1968 zu erzählen. Es entstanden acht in Videobändern aufgezeichnete Interviews.
 


 

Ausstellungsbeschreibung


Der Besucher betritt den Ausstellungsraum. Es ist ein dunkler Raum ohne Licht. Er bewegt sich unsicher ein paar Schritte. Plötzlich leuchten in seiner unmittelbaren Nähe Lichter auf, ein Monitor springt an, eine Vitrine leuchtet auf und ein großes Foto erscheint an der Wand.


 

Auf dem Monitor sieht der Besucher eine Frau oder einen Mann, der etwas erzählt. Doch der Ton, die Worte sind abgekoppelt vom Bild. Die Worte kommen aus der Vitrine, in denen ein merkwürdig fremdes und gleichzeitig banales Ding wie ein wissenschaftlich wertvolles Objekt gezeigt wird. Die Worte erzählen die Geschichte der Studenten von 1968. Das Großfoto an der Wand zeigt den zugehörigen Ort, bevor das Objekt aus ihm herausgelöst wurde. Es ist das 1968 während der Studentenrevolte umkämpfte Nachbargebäude. Die Räume sind im Zuge des Neubaus weitgehend abgetragen. Nur noch die alte Fassade ist stehen geblieben. Die gezeigten Bilder und Objekte sind schon Geschichte geworden.
[Eine Überwachungskamera überträgt die Bilder vom Abriss und Umbau des Gebäudes auf einen Monitor im Ausstellungsraum. Mögliche 9. Station]
Entfernt sich der Besucher von einer Station erlischt diese und eine Neue mit einer anderen Vitrine, einem anderen Objekt , einem anderen Foto und einer anderen Geschichte von einem anderen Zeitzeugen erzählt, leuchtet auf. Die vorübergegangene fällt wieder ins Dunkel.


 

Bewegen sich mehrere oder viele Menschen im Raum, leuchten mehrere oder alle Teile der Installation auf.
Das Zentrum des Ausstellungsraumes wird eine Skulptur aus den alten Fenstern des Gebäudes sein. Sie öffnen dem Besucher immer neue unterschiedliche Blicke auf die acht Stationen durch die Geschichte von MariAntonia: Janelas da Memoria.
Es ist eine in Worte, Bilder, Dinge und Räume gebrochene Geschichte, deren Zwischenräume Teil der Arbeit sind.
 


 

Die Fotos der zu Kunst umgeformten Gegenstände sollen nach den Umbauarbeiten in das renovierte Gebäude des Kulturzentrums MariAntonia zurückkehren und markieren dort genau die Orte, aus denen sie vorher herausgelöst wurden.
 


 

Das Ausstellungsprojekt wurde von Fulvia Molina, Marcelo Brodsky, Andreas Knitz und Horst Hoheisel gemeinsam erarbeitet und ausgeführt. Die einzelnen Künstler übernahmen aber Schwerpunkte. So bearbeitete Fulvia Molina [Sao Paulo] den Teil mit den Interviews der Zeitzeugen, Marcelo Brodsky [Buenos Aires] übernahm die fotographische Dokumentation, Andreas Knitz (Alemanha) entwickelte die Fenster-Skulptur und Horst Hoheisel [Alemanha] die Präsentation der Objekte.


 

In einem zweiten, kleineren Ausstellungsraum werden Arbeiten der einzelnen Künstler gezeigt, die an anderen Orten aber auch im Kontext von Kunst und Erinnerung entstanden sind.


 

Marcelo Brodsky wird Fotoarbeiten über die Verschwundenen während der Militärdiktatur in Argentinien zeigen und eine Videoarbeit über eine Intervention, die er in diesem Jahr an einer Säule aus der Nazizeit in Hannover [Alemanha] gemacht hat.


 

Andreas Knitz und Horst Hoheisel werden Ausschnitte aus ihren gemeinsamen Denkmal-Arbeiten in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald und in Weimar zeigen.


 

Horst Hoheisel wird eine Videoinstallation zeigen, die sich mit Hegels Ästhetik [Maria Antonia war philosophische Fakultät] und mit Gewalt auseinandersetzt. In einer zweiten Installation geht es um den Widerstand gegen das Reichskriegsgericht 1945 in Deutschland.


 

Fulvia Molina wird ebenfalls eine Arbeit zu Kunst und Erinnerung in diesem Raum zeigen.
 


 

Kassel, 8. August 2003
Andreas Knitz und Horst Hoheisel


 

 


 

Kuratoren der Ausstellung: Yara Richter, Joachim Bernauer, Goetheinstitut, Lorenzo Mammi, MariAntonia