AusgeLAGERTE ERINNERUNG [Stuttgart-Echterdingen 2008] Drucken E-Mail
out CAMPed memory
AusgeLAGERte ERINNERUNG [Stuttgart-Echterdingen 2008]
Denkmal an das ehemalige KZ-Außenlager Echterdingen 1944/1945
 
Entwurf: Andreas Knitz, Dr. Horst Hoheisel
Wettbewerbsbeitrag Dezember 2008 - Ausgeschieden - Kritik: "zu viele Emotionen"
 

 

 

Die Aufgabe:
Wir (Andreas Knitz, Horst Hoheisel) wurden von den Gemeinden Leinfelden-Echterdingen und Filderstadt zu einem Gedenkstätten-Wettbewerb eingeladen. Gewünscht wurde ein Entwurf zur Gestaltung eines Gedenkortes an das ehemalige KZ Außenlager Echterdingen am Flughafen Stuttgart. Der authentische Ort, ein Hangar, in dem die 600, ausschließlich jüdischen Häftlinge, untergebracht waren, existiert noch. 2005 wurde bei Bauarbeiten in der Nähe des Hangars ein Massengrab entdeckt. Die Reste dieser vierundreißig ehemaligen Häftlinge wurden 2007 nach jüdischem Ritual an gleicher Stelle wieder beigesetzt. Sowohl der Hangar als auch das Massengrab sind Teil des von den US-Streitkräften genutzten US-Air-Fields und der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Deshalb haben die Gemeinden ein Stück Acker vor dem Sicherheitszaun erworben und die Gedenkstätte soll dort errichtet werden.
 
Unser Vorschlag geht über die Auslobung hinaus, indem er versucht, den authentischen Ort: den Hangar der Häftlinge, der jetzt noch von den Amerikanern als Teil des US-Airfields genutzt wird, als eigentlichen Gedenkort der Öffentlichkeit zurückzugeben und das Denkmal, eine Skulptur aus Häftlingsbetten (als Symbol für die Schutzlosigkeit und dem Verlust der Würde) mit den Namen aller Häftlinge, nur vorläufig auf dem freien Feld vor dem Sicherheitszaun zu errichten. Sobald der Hangar der Öffentlichkeit als authentischer Gedenkort zugänglich ist, wird auch das Denkmal dorthin versetzt (verlagert). Bürgerinnen und Bürger, Firmen und Institutionen aus der Region können sich durch Patenschaften für ein oder mehrere Häftlings-Betten an der Gedenkstätte beteiligen. (Wettbewerbsauslobung)

 

Die Haltung:
Deutschland ist das Land, aus dem die Täter kamen. Das Gedenken in Deutschland muss Tat und Täter thematisieren. Das Gedenken an die Opfer kann in Deutschland nicht die notwendige Auseinandersetzung mit der Tat und den Tätern ersetzen.
 
 
SS-Unterscharführer im KZ Buchenwald (Thür.HStA Weimar) -Der Lagerleiter des KZ-Echterdingen René Romann
 
 
 
 
 
 
Der Tatort:
Der authentische Ort des Hangars steht als Gedenkort nicht zur Verfügung. Er ist Teil des US-Airfields und damit noch immer (wenn auch in ganz unterschiedlichem Kontext) Teil einer Kriegsmaschinerie. Deshalb wird das Gedenken an das KZ-Außenlager aufs freie Feld vor den Sicherheitszaun ausgelagert. Eine zusätzliche Sichtblende soll den Blick auf den Hangar des ehemaligen KZ-Gebäudes verhindern.
Dies ist nicht hinnehmbar. Der Hangar muss (in den kommenden Jahren) als authentischer Gedenkort der Öffentlichkeit zurückgegeben werden.
 
 
Links: Titelfoto Filderstädter Schriftenreihe Band 20 KZ-AUßenlager (2008) - ehemalige Häftlinge - im Hintergrund der Hangar
Rechts: Grabplatten der 34 Gräber im US-Army-Airfield - wahrscheinlich der am besten bewachte jüdische Friedhof der Welt - dahinter der Hangar

 
Die Bürokratie:
Zu diesem Entwurf gehört der Versuch über Politiker und Beamte (Bundesminister, Staatssekretäre) eine Rückgabe des Hangars als authentischen Gedenk-Ort zu erreichen. Zur Zeit wird dies in Brüssel (Nato) und von dem für die Liegenschaft zuständigen Staatssekretär geprüft.

Die Form:
Auf dem freien Feld vor dem Sicherheitszaun wird ein den 600 Häftlingen gewidmetes Bettenlager errichtet. Die Betten tragen die Namen der Häftlinge. Das Material ist Beton, gewonnen und gemischt aus dem Material der Steinbrüche Leinfelden und Emerland in denen die Häftlinge ihre Sklavenarbeit verrichten mussten.
 

Die Erklärung:
Einige glasgeschützte Betten vermitteln wie „Vitrinen“ die Geschichte des KZ-Außenlagers Echterdingen.
 
 
Die Ordnung:
Das „Betten-Außenlager“ wird als Gedenkstätte mit dem gleichen Zaun gesichert wie der militärische Bereich zu dem (noch) der ehemalige KZ-Hangar und das 2005 gefundene Gräberfeld der vierunddreißig Häftlinge gehören. Damit wird das Denkmal sichtbarer Teil einer Gesamt-Gedenkstätte aus Hangar, Gräberfeld, den ehemaligen Steinbrüchen und Denkmal.
 
Die Zukunft:

Sobald der Hangar der Öffentlichkeit als authentischer Gedenkort wieder zur Verfügung steht - der Ort wird nicht ewig US-Militärbase sein - kann die ausgelagerte Erinnerungs-Skulptur mit den Namens-Betten der Häftlinge in den Hangar versetzt werden.

 
 
Die Kosten:
Eine Bett-Seite mit eingegossenem Namen zur Erinnerung an einen Häftling kostet ca. 100 Euro, 33 Euro für jede der drei Gemeinden. Soviel sollte den Städten Leinfelden, Echterdingen und Filderstadt, die zu keiner armen Region gehören das Gedenken an einen ehemaligen KZ-Häftling wert sein.
 
 
 
Patenschaften:
Schulen, Vereine, Institutionen, Firmen, Familien, Bürgerinnen und Bürger der Region können Patenschaften für ein oder mehrere Häftlings-Namens-Betten gegen eine Spende von jeweils 100 Euro erwerben. Sie erhalten eine von den Künstlern gestaltete Patenschaftsurkunde mit dem Namen des Häftlings. Das Denkmal wächst mit zunehmender (An-)Teilnahme der Bevölkerung. Es wird demokratisch.
 
 
 
 
Text der Wettbewerbsauslobung:
 
Das KZ-Außenlager Echterdingen[1]
1. Überblick
Am 19. September 2005 rückte ganz unerwartet die Geschichte eines KZ-Außenla­gers in die Schlagzeilen der Medien im In- und Ausland. Bei Bauarbeiten auf dem amerikanischen Teil des Stuttgarter Flughafens wurde ein Massengrab mit 34 Toten gefunden, bei denen es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Häftlinge des KZ-Außenlagers Echterdingen handelte. In einem Hangar im südwestlichen Teil des Flughafens befand sich zwischen 22. November und Ende Januar 1945 eines der 70 KZ-Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof. Trotz der kurzen Zeit seiner Existenz haben mindestens 119 der insgesamt 600 Häftlinge ihr Leben verloren.
1.1 Zur Lagergeschichte
Der Stuttgarter Flughafen wurde im September 1939 fertig gestellt und bei Kriegsbeginn sofort unter das Kommando der Luftwaffe gestellt. Aufgrund seiner militärischen Bedeutung wurde er am 14. August 1944 zum Ziel eines amerikanischen Luftangriffs, durch den die Start- und Landebahn stark beschädigt wurde. Daraufhin forderte die für die Instandsetzung des Flughafens zuständige Organisation Todt/Bauleitung Esslingen 600 Arbeitskräfte beim Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt (WVHA) der SS, der Befehlszentrale aller Konzentrationslager, an, um die Startbahn zu reparieren und einen Verbindungsweg zur Autobahn zu bauen, damit die auf dem Flughafen stationierten Nachtjäger auch dort starten und landen konnten.
Die 600 Häftlinge – sie waren durchweg jüdischen Glaubens – trafen am 22. November 1944 per Bahn in Echterdingen ein. Sie kamen vom KZ Stutthof bei Danzig und waren verschiedenster Nationalität: 202 von ihnen stammten aus Ungarn, 144 kamen aus Polen, 80 aus Griechenland, 43 aus Frankreich, 32 aus Holland und weiteren Nationen, nur neun kamen aus Deutschland.
Der gesundheitliche Zustand der meisten war bereits bei der Ankunft bedenklich, viele von ihnen hatten bereits eine lange Leidenszeit von KZ-Aufenthalten hinter sich. Das eigentliche Lager war ein Hangar, der im Februar 1944 errichtet worden war und zuvor als Unterkunft für nicht-jüdische Zwangsarbeiter gedient hatte. Er war von einem Stacheldraht-Zaun und vier Wachtürmen umgeben.
Um die Löcher in der Startbahn wieder aufzufüllen, mussten die hierfür erforderlichen Steine in Steinbrüchen der näheren Umgebung gebrochen werden. Einer der Steinbrüche lag im „Emerland“ südlich von Bernhausen, der andere beim heutigen alten Leinfeldener Sportplatz. Die Wachmannschaft bestanden aus Angehörigen der auf dem Flughafen stationierten Einheiten der Luftwaffe. Lagerkommandant war der elsässische SS-Untersturmführer René Romann, der zuvor im Hauptlager Wachmann und Blockleiter gewesen war. Später wurde er Kommandant des KZ-Außenlagers Geislingen.
Auf dem Weg in die Sandsteinbrüche kamen die Häftlinge mit der Bevölkerung der Flughafengemeinden in Berührung. Das Elend der Häftlinge, die ein Bild des Jammers boten, wenn sie sich durch die Straßen von Bernhausen, Echterdingen und Leinfelden schleppten, hat sich tief im kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Zahlreiche Bürger haben – gegen striktes Verbot – zu helfen versucht, indem sie etwas Essbares für die Häftlinge auf ihrem Weg oder in den Steinbrüchen deponiert haben.
Die schwere körperliche Arbeit bei unzureichender Ernährung und Kälte führten bald zu Krankheiten und hatten bei der mangelnden ärztlichen Versorgung bald den Tod von mindestens 119 Häftlingen zur Folge. 19 von ihnen wurden im Krematorium in Esslingen eingeäschert. Weitere 66 Opfer wurden in einem Massengrab in einem vier Kilometer entfernt liegenden Waldstück, dem Bernhäuser Forst, vergraben, aber nach Kriegsende exhumiert und auf dem Esslinger Ebershaldenfriedhof beigesetzt. Die sterblichen Überreste von weiteren 34 Opfern wurden – wie der Fund eines weiteren Massengrabs im September 2005 gezeigt hat – auf dem Lagergelände selbst vergraben. Am Leben und der Erhaltung der Arbeitskraft der Häftlinge hatten die nationalsozialistischen Machthaber angesichts der bevorstehenden militärischen Niederlage des deutschen Reiches kein Interesse. Die Vernichtung hatte schlechterdings Priorität vor der Ausbeutung der Arbeitskraft.
Die Namen der 119 Opfer sind inzwischen bekannt, somit konnte ihnen ihre Identität und damit ein Stück weit auch ihre Würde zurückgegeben werden. Allerdings ist eine Zuordnung, welche Toten auf welchem der beiden Friedhöfe liegen, nicht möglich.
Als im Januar 1945 eine Fleckfieberepidemie ausbrach, begann die sukzessive Auflösung des Lagers. Das Leiden der Häftlinge nahm aber damit kein Ende. Vielmehr begann für sie eine neue qualvolle Odyssee, auf der sie per Güterwagen in andere Lager gebracht wurden. Etwa 96 von ihnen kamen am 9. Januar in das so genannte Krankenlager Vaihingen/Enz, ebenfalls eine Außenstelle des KZ Natzweiler, 74 von ihnen starben dort, 21 wurden nach der Auflösung des Lager ins KZ Dachau verlegt. Weitere 58 Häftlinge kamen in das KZ Bergen-Belsen und 324 Personen in das KZ Ohrdruf in Thüringen, einem Außenlager des KZ Buchenwald, von den restlichen dreien ist der Verbleib unklar. Wie viele der Echterdinger Häftlinge tatsächlich ihre Befreiung erlebt haben, ist nicht bekannt, bis jetzt weiß man von 18 Personen.
1.2 Der Umgang mit der Vergangenheit nach 1945
Nach Kriegsende sorgte die französische Besatzungsmacht dafür, dass das Massengrab im Bernhäuser Forst eingefriedet und mit einer Gedenktafel versehen wurde. Auf Verlangen der US-Militärregierung wurden im Oktober 1945 die 66 Toten aus dem Massengrab exhumiert und auf dem jüdischen Teil des Ebershaldenfriedhofs Esslingen bestattet, 1947 wurde dort für die 66 dort begrabenen sowie die 19 verbrannten Toten des KZ-Echterdingen ein Gedenkstein gesetzt, der die folgende Inschrift trägt: „Hier ruhen 85 Juden unbekannter Nationalität, Opfer nationalsozialistischer Grausamkeit. Ihr Sterben sei eine Mahnung zur Menschlichkeit für die lebende Generation.“
Für drei Jahrzehnte verschwand das ehemalige KZ-Außenlager völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein. Erst die Forschungen von Barbara Keuerleber, die in dem 1978 von Herwart Vorländer herausgegebenen Band über die KZ-Außenlager von Natzweiler erschienen, bewirkten, dass eine Jugendgruppe des Jugendhauses Leinfelden die Forderung nach einer Gedenktafel erhob. Während eine Gedenktafel auf dem Flughafen abgelehnt wurde, beschloss die Stadt Leinfelden-Echterdingen, auf dem Friedhof Echterdingen ein Mahnmal des Künstlers Raphael Habel mit einer Gedenktafel anzubringen, das am Volkstrauertag 1982 eingeweiht wurde.
Den Anstoß für einen Gedenken direkt am Ort des einstigen Konzentrationslagers gab erst die von der Stadt Filderstadt geförderte Dissertation von Gudrun Silberzahn-Jandt über die Geschichte der NS-Zeit in Filderstadt. Aus Anlass des 50. Jahrestags des Kriegsendes errichtete die Stadt Filderstadt vor dem US-Airfield ein Mahnmal zum Gedenken an die Häftlinge und die Toten des KZ-Außenlagers. Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes veranstaltete der SPD-Ortsverein Filderstadt im Jahr 2005 einen Ideenwettbewerb für eine mögliche Gedenkstätte im Bernhäuser Forst, an dem sich vor allem Schüler beteiligten.
1.3 Der Fund des Massengrabs im September 2005
Der zufällige Fund des Massengrabs mit 34 Toten innerhalb des amerikanischen Militärflughafens steigerte schlagartig das Interesse an der Geschichte des KZ-Außenlagers Echterdingen. Dies galt nicht nur für die Medien, sondern auch für die Bevölkerung auf den Fildern.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart leitete Ermittlungen wegen Mordes ein, die von einer Sondereinheit des Landeskriminalamtes aufgenommen wurden. Nach eingehender Abwägung entschied das baden-württembergische Justizministerium auf die von der Staatsanwalt zur Identifizierung geforderten DNA-Analysen zu verzichten. Das Land folgte damit dem Wunsch der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg und des Komitees zum Schutz jüdischer Friedhöfe in Europa, da nach den jüdischen Religionsgesetzen die Wahrung der Totenruhe eine zentrale Rolle spielt. Die feierliche Wiederbestattung fand am 15. Dezember 2005 in Anwesenheit von zahlreichen Rabbinern aus dem In- und Ausland statt. Auch zwei Überlebende wohnten der beeindruckenden Zeremonie bei.
Der Fund des Massengrabs 2005 hat entscheidende Anstöße sowohl im Hinblick auf die Erforschung der Lagergeschichte als auch für ein würdiges Gedenken an die jüdischen Opfer der NS-Diktatur auf lokaler Ebene gegeben. Als gemeinsames Projekt der Städte Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen wurde im März 2006 eine Geschichtswerkstatt gegründet, die eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des KZ-Außenlagers vorbereitet und Überlegungen zu einer Gedenkstätte in unmittelbarer Nähe des einstigen KZ-Außenlagers anstellt.
1.4 Spuren der Erinnerung heute
Der 1995 aufgestellte Gedenkstein steht am Radweg zwischen Bernhausen und Echterdingen vor dem Zaun des US-Airfield. Seine Inschrift erinnert an die 600 Häftlinge sowie die Toten des KZ Echterdingen. Die 34 Gräber der jüdischen Häftlinge befinden sich hingegen innerhalb des Militärgeländes und sind nicht öffentlich zugänglich. Im April 2007 wurden nach jüdischem Ritus 34 Grabsteine auf dem Gräberfeld enthüllt.
Auch der Hangar, das einstige KZ-Gebäude, ist noch erhalten, da er durch das amerikanische Militär genutzt wird, ist er ebenfalls nicht öffentlich zugänglich.
In Echterdingen wurde 1982 an der Südseite des Friedhofs auf Beschluss des Leinfelden-Echterdinger Gemeinderats ein Gedenkstein errichtet.
Als drittes Mahnmal sei der Gedenkstein auf dem Ebershaldenfriedhof in Esslingen in Form eines großen Davidsterns erwähnt.
Bislang ohne besondere Kennzeichnung sind weitere Orte des Geschehens wie das ehemalige Massengrab im Bernhäuser Forst sowie die ehemaligen Steinbrüche bei Bernhausen und Leinfelden.
Gruppenführungen zu diesen Stätten sind durch die Geschichtswerkstatt KZ-Außenlager möglich. Aufgrund der relativ weiten Entfernungen sind sie jedoch nicht im Rundgang zu Fuß erreichbar.
Kontakt: Stadtarchiv Filderstadt 07158/8219 und Stadtarchiv Leinfelden-Echterdingen 0711/9975409.
1.5 Literatur
Faltin, Thomas: Sechs Jahre im Angesicht des Todes. Benjamin Gelhorn hat das KZ Echterdingen am Flughafen und sechs weitere Lager überlebt. In: Stuttgarter Zeitung vom 6.12.2005.
Sowie zahlreiche weitere Artikel in der Stuttgarter Zeitung zwischen September und Dezember 2005.
Keuerleber-Siegle, Barbara: Das Lager Echterdingen. In: Vorländer, Herwart (Hrsg.): Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienst der totalen Kriegsführung. Sieben württembergische Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsaß. Stuttgart 1978, S. 131-148.
KZ-Außenlager Flughafen Echterdingen. „Sie kamen abends von der Arbeit und am Morgen waren sie tot.“. In: „Räder müssen rollen für den Sieg!“ Ausländ. Zwangsarbeiter/innen im Kreis Esslingen 1940-1945. Hg. von der VVN. Esslingen 1988, S. 62-69.
Silberzahn-Jandt, Gudrun: Vom Pfarrberg zum Hitlerplatz. Fünf Filderdörfer während der Zeit des Nationalsozialismus: eine Topographie. Filderstadt 1995. (Filderstädter Schriftenreihe Band 9)
Steegmann, Robert: Struthof. Le KL-Natzweiler et ses kommandos : une nébuleuse concentrationnaire des deux côtés du Rhin 1941-1945. Strasbourg 2005.
In Vorbereitung:
Thomas Faltin u. a.: Das KZ-Außenlager Echterdingen. Hg. von den Städten Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen. Erscheint Ende 2008.
2. Alltag im KZ Echterdingen
Die meisten Überlebenden des KZ Echterdingen können sich noch an einzelne Ereignisse erinnern, wie Benjamin Gelhorn sich etwa an das Begräbnis von sechs toten Mithäftlingen erinnert – die Gesichter und Namen von Wachsoldaten oder Mithäftlingen aber sind ihnen meist ebenso unbekannt geblieben wie das Wissen um zusammenhängende Entwicklungen im Lager. Diese selektive Erinnerung liegt nicht nur daran, dass viele Jahrzehnte seit der Lagerzeit vergangen sind; sie scheint auch darin begründet zu sein, dass jeder um sein Leben kämpfte und deshalb kaum auf anderes achtete. Tatsächlich war auch in Echterdingen der Tod ein täglicher Gast in jenem Flugzeug-Hangar, in dem die Häftlinge untergebracht waren – im Schnitt starben jeden Tag zwei der ursprünglich 600 Männer. Dieses Leben im Angesicht des Todes prägte das Bewusstsein. Vieles im Umfeld wurde überhaupt nicht mehr wahrgenommen, das Denken kreiste lediglich noch darum, den Tag zu überdauern. „Wir wussten, dass wir früher oder später erledigt waren“, sagt Benjamin Gelhorn heute über sein Martyrium. Robert Wolf hat seinen Zustand in die Worte gekleidet: „Unterernährung debilisiert; die Gespräche kamen kaum über Wunschdenken und die täglichen Banalitäten hinaus. Im Krankenbau in Auschwitz habe ich mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter verschiedentlich den Versuch gemacht, über andere Themen zu reden oder auch um miteinander Englisch zu sprechen, aber das konnte keiner von uns länger als ein paar Minuten durchhalten.“[2] Die Kälte, die schwere Arbeit, das Fleckfieber und vor allem der quälende Hunger bedrohten die Häftlinge, viele waren zudem in größter Sorge um ihre Eltern, Frau oder Kinder, von denen sie seit langem nichts mehr gehört hatten. Aus all diesem quoll eine Verzweiflung, die weit in die Tiefe der Seele reichte. Dies hat auch die Bevölkerung in den umliegenden Gemeinden durchaus in seiner ganzen Tragweite wahrgenommen. Es waren „ausgemergelte Gesichter mit fast erstorbenen scheuen Blicken“[3], die die Bewohner Bernhausens und Echterdingen erlebten. Auch Häftlinge anderer Konzentrationslager haben immer wieder von dieser seelischen Entmenschlichung in dieser existenziell bedrohlichen Situation berichtet. Wie sehr sich letztlich alles um den Hunger und um dessen Abhilfe drehte, hat Elie Wiesel mit diesen Worten beschrieben: „Mein ganzes Streben zielte nur noch auf meinen täglichen Teller Suppe, auf meinen Kanten altbackenes Brot hin. Brot, Suppe – das war mein Leben, nicht mehr. Ich war nur noch ein Körper. Vielleicht noch weniger: ein hungriger Magen.“[4] So groß war dieser Hunger, dass der Blockälteste der Romanfigur Elischa, dessen geliebter Vater todkrank ist, den Rat gibt: „Hier muss jeder für sich kämpfen und darf nicht an die anderen denken. Nicht einmal an seinen eigenen Vater. Hier gibt es weder Vater noch Bruder, noch Freund. Hier lebt und stirbt jeder für sich. Ich gebe dir einen guten Rat: Gib deinem alten Vater keine Brot- oder Suppenration mehr. (...) Du müsstest auch seine Ration essen.“[5]
Einige zentrale Punkte sollen aber hier kurz angesprochen werden, denn nur dann werden die Umstände des Todes von mindestens 119 Männern deutlich, und nur dann bleibt die abschließende Bewertung des Lagers Echterdingen durch die überlebenden Häftlinge nachvollziehbar.
Essen. Die Versorgung mit Lebensmitteln war auch im Lager Echterdingen nicht ausreichend. Man habe ständigen Hunger gelitten, erzählt Benjamin Gelhorn, und es habe häufig Prügeleien zwischen den Häftlingen gegeben, weil einer zweimal mit seinem Blechnapf angestanden habe und ein anderer deshalb leer ausgegangen sei. Das Essen habe meistens lediglich aus einer Suppe bestanden, so Gelhorn. Gerade im Winter konnte damit niemand satt werden. Dennoch könnte die Versorgung etwas besser gewesen sein als in anderen Lagern. Der ehemalige Häftling Henry Ehrlich sagte sogar aus: „Es gab genügend Kartoffeln und Gemüse, mitunter Pferdefleisch und Milch.“[6] Zudem hatten manche Häftlinge, die nicht direkt auf dem Flughafen, sondern in den umliegenden Steinbrüchen oder auf Bauernhöfen arbeiteten, Kontakt zur Zivilbevölkerung. Es ist durch glaubhafte Zeugenaussagen wie auch durch Häftlinge mehrfach belegt, dass den Männern dabei Kartoffeln oder Äpfel zugesteckt wurden.[7] Insgesamt muss dennoch davon ausgegangen werden, dass die geschwächten, frierenden und seit Jahren unterernährten Männer viel zu wenig zu essen bekamen. Die Bäuerin Margot H. erinnert sich beispielsweise an eine erschütternde Szene: Die Häftlinge hätten, als sie auf dem Weg zum Steinbruch an ihrem Hof vorbeigekommen seien, sogar den Misthaufen durchsucht – sie hofften den Strunk von Filderkrautköpfen zu finden, der als ungenießbar gilt und deshalb von den Bauern weggeworfen wurde.
Krankenversorgung. Angeblich ist bei der Eröffnung des Lagers Echterdingen in einer Ecke des Flugzeughangars ein Krankenrevier eingerichtet worden, in das sich kranke Häftlinge zurückziehen konnten.[8] Eine ärztliche Versorgung, die diesen Namen verdient, gab es aber nicht. Lediglich ein oder mehrere Ärzte, die sich zufällig unter den Häftlingen befunden haben, kümmerten sich um die Kranken. Darunter soll ein Dr. Goldberg aus Krakau gewesen sein.[9] Verbandszeug, diagnostische Geräte oder gar Medikamente standen diesen Ärzten aber nicht zur Verfügung. Dies hat sogar der Lagerkommandant René Romann im Jahr 1970 indirekt bestätigt. Er gab zu Protokoll, dass er, da die Häftlinge „größtenteils krank“ angekommen seien, von Schwestern des Krankenhauses Esslingen in der Anfangszeit des Lagers viel Haferflocken erhalten habe, wodurch sich der Krankheitszustand der Männer etwas gebessert habe: „Jeder Häftling erhielt Normalverpflegung mit Schwerarbeiterzulage, die Verpflegung war aber kaum geeignet für Darmkranke.“[10] Von anderen notwendigen Dingen für die medizinische Versorgung spricht Romann nicht.
Daneben dürfte es im Lager sowieso nicht gern gesehen worden sein, wenn die Häftlinge sich ins Krankenrevier legten – sie hatten gefälligst zu arbeiten. Henry Ehrlich weiß von einem Fall, bei dem sich einige Häftlinge so elend fühlten, dass sie nicht mehr zur Arbeit gehen konnten. Nach etwa einer Woche seien sie plötzlich verschwunden gewesen, als die anderen abends in den Hangar zurückkehrten: „Was mit diesen Häftlingen geschehen ist, wussten wir nicht. Sie kehrten ins Lager nicht zurück. Seit dieser Zeit wollte niemand im Lager bleiben.“[11] Es gibt allerdings keinerlei Hinweis darauf, dass diese Häftlinge getötet worden sind. Wahrscheinlicher ist, dass sie an ihrer Erkrankung starben oder dass sie zu einem der beiden Transporte ins KZ Vaihingen/Enz gehörten, die knapp zwei Wochen vor der eigentlichen Auflösung des Lagers stattgefunden haben.[12] Tatsache ist, dass in den letzten Wochen des KZ Echterdingen die Zahl der kranken Häftlinge sprunghaft anstieg. Vermutlich hatte sich eine Epidemie ausgebreitet, die teilweise als Ruhr[13] und teilweise als Fleckfieber[14] bezeichnet wird. Diese Epidemie dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb das Lager am 20. Januar 1945 aufgelöst wurde. Wegen dieser Epidemie hat es zunächst auch die beiden Transporte nach Vaihingen/Enz gegeben: Das dortige Lager war ein Kranken- und Sterbelager gewesen. Die Häftlinge erhielten dort allerdings keine Behandlung. Im Gegenteil diente das Lager lediglich dazu, die kranken Häftlinge zu separieren, um die Gefahr der Ausbreitung von Seuchen in den eigentlichen Arbeitslagern zu verringern. Tatsächlich starben 74 der rund 100 Häftlinge, die von Echterdingen nach Vaihingen/Enz gekommen waren, dort in den folgenden zwei Monaten.
Bewachung. Die Bewachung der jüdischen Gefangenen im KZ Echterdingen erfolgte durch Soldaten des naheliegenden Fliegerhorstes, die sich täglich abwechselten. Nur der Lagerkommandant gehörte also der SS an.[15] Die SS-Ideologie mit ihrem unbändigen Hass auf die Juden, die für jeden SS-Mann das Prinzip des Bösen verkörperten[16], dürfte in Echterdingen deshalb nicht ganz so stark zum Tragen gekommen sein wie in vielen anderen Lagern. Tatsächlich sind weder aus Echterdingen noch aus dem Frauenlager Geislingen/Steige, das der Kommandant René Romann anschließend leitete, Exekutionen, schwere Misshandlungen oder Willkürakte bekannt. Dies bestätigen übereinstimmend alle Überlebenden aus Echterdingen. So sagte der ehemalige Häftling Isaak Borenstein: Der Lagerkommandant „war sehr streng, ich habe aber nicht gesehen, dass er Häftlinge tötete.“[17] Auch Robert Wolf betont in seinem Bericht: Der Lagerkommandant „war ein SS-Unterführer, der uns das Leben nicht unnötig schwer machte; die Wachmannschaften gehörten der Luftwaffe an. Sie versahen den Dienst bei Häftlingen mit Unbehagen und behandelten uns durchweg anständig.“[18] Benjamin Gelhorn bestätigt diese Sicht der Dinge. Romann selbst nahm für sich in Anspruch: „Ich kann aber mit gutem Gewissen sagen, dass kein Häftling während des Kommandos in Echterdingen erschlagen, exekutiert oder so misshandelt wurde, dass er an diesen Misshandlungen verstorben ist.“[19] Dennoch existieren auch andere Berichte, die zeigen, dass manche der Bewacher die jüdischen Häftlinge missachteten und mit ihnen sogar ihren Spott trieben. So gab Isaak Borenstein sehr wohl auch zu Protokoll: Er habe gesehen, wie der Lagerkommandant Häftlinge geschlagen hat. Außerdem hat Romann den Bewohnern der umliegenden Gemeinden bei schwerer Strafe verboten haben, den Häftlingen Essen zuzustecken.[20] Dass dies keine leere Drohung war, musste der Malermeister Karl A. erleben: „Nach mir selbst wurde geschossen, als ich Äpfel zum Fenster hinausgab.“[21] Daneben gibt es Erzählungen, dass sich die Wachsoldaten einen Spaß daraus gemacht haben, die Äpfel wegzukicken, die Einwohner den Häftlingen zugeworfen hatten. Und manche lebten mit ihren Handlungen ihren Machtwahn aus, wie ein Flakhelfer am Flughafen. Laut dem Bericht eines Augenzeugen stürzten sich KZ-Häftlinge einmal auf einen Apfelbutzen, den der Flakhelfer weggeworfen habe. Der Mann habe daraufhin einen weiteren Apfel gegessen, dann aber den Butzen fest in den Boden getreten und noch darüber uriniert, damit ihn niemand mehr essen konnte.[22]

Das Fazit über die Lebensumstände im Lager Echterdingen muss deshalb differenziert und ambivalent ausfallen. So betonen viele überlebende Häftlinge, dass Echterdingen insgesamt weniger schlimm war als andere Lager, weil es etwas mehr zu essen gab und weil die Behandlung besser war. Darauf angesprochen, sagte beispielsweise Benjamin Gelhorn spontan: „Echterdingen war nicht so schlimm, weil wir nicht jeden Tag eine Selektion für die Gaskammern fürchten mussten.“ Die Häftlinge haben also sehr wohl Unterschiede zwischen den Lagern gemacht – diese Unterschiede waren bedingt durch die persönliche Haltung einzelner Wach- und Führungspersonen, aber auch in der Struktur der Lager. Echterdingen als Arbeitslager hatte andere Regeln als beispielsweise Birkenau, das Zentrum der Vernichtungsmaschinerie der Nazis – und von dort waren viele oder womöglich gar alle Häftlinge ja nach Echterdingen gekommen.
Dennoch ist es mitnichten angebracht, das KZ Echterdingen zu verharmlosen. Auch dort war die Versorgung mit Lebensmitteln unzureichend, eine medizinische Behandlung fehlte, die Arbeit war schwer, und die Kälte und die Hoffnungslosigkeit hielten viele Häftlinge nicht aus. Auch Echterdingen war ein menschenverachtendes Lager, das nach der Devise „Vernichtung durch Arbeit“ funktionierte. Tatsächlich sind in den zwei Monaten von Ende November 1944 bis Ende Januar 1945 mindestens 119 der 600 Häftlinge umgekommen. Der Überlebende Robert Wolf hat sein Resümee über Echterdingen in diese Worte gefasst: „Wenn auch Misshandlungen ausblieben, die Überlebenschancen in Echterdingen waren schlecht. Das hatte einerseits mit der Kälte zu tun, andererseits mit der fehlenden Hygiene. Der Hangar war viel zu hoch, um heizbar zu sein, selbst wenn reichlich Brennstoff verfügbar gewesen wäre, unsere Kleidung völlig unzureichend und die Decken zu wenig und zu dünn, die Unterernährung machte die Kälte noch schwerer erträglich. Es war kaum genügend Wasser zum Trinken da; Waschgelegenheit gab es keine. Läuse dagegen gab es im Überfluss, vermutlich aus den Strohsäcken, und die verbreiteten Typhus.“[23]

3. Auszug den Lebenserinnerungen des ehem. Häftlings Robert Wolf aus Holland
Robert Wolf aus Holland ist der einzige überlebende Häftling aus Echterdingen, von dem schriftliche Lebenserinnerungen bekannt sein. Er tauchte 1944 unter und wurde in verhaftet, nach mehreren Monaten in verschiedenen Haftanstalten in Deutschland kam er ins KZ Auschwitz, von dort aus nach Stutthof bei Danzig, und im November 1944 nach Echterdingen.
“Ende November 1944 wurden wir [von Stutthof/Danzig] nach Echterdingen verfrachtet und in einem Hangar des Stuttgarter Flughafens untergebracht.
Diesmal ging die Reise in Viehwagen und dauerte vier Tage, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt. Ich muss dazu erklären, dass zu dieser Zeit das Transportwesen des Reiches dem Zusammenbruch nahe war.
Tagsüber bewegte sich fast nichts, denn alliierte Tiefflieger griffen jeden Lastwagen oder Zug an. Unter diesen Umständen mit Zügen voller Gefangenen kreuz und quer durch das schrumpfende Reich zu fahren, war ein kompletter Irrsinn.
Die Erklärung liegt wohl darin, dass die SS einen Staat im Staat aufgebaut hatte, der wenig Interesse für die Bedürfnisse der Wehrmacht, geschweige denn der Zivilbevölkerung hatte.
Der Lagerkommandant in Echterdingen war ein SS-Unterführer, der uns das Leben nicht unnötig schwer machte; die Wachmannschaften gehörten der Luftwaffe an.
Sie versahen den Dienst bei Häftlingen mit Unbehagen und behandelten uns durchweg anständig. Wenn sie Essen übrig hatten, schoben sie es uns zu, obwohl ihnen das streng untersagt war.
Die Bevölkerung war auch recht anständig zu uns. Als wir am ersten Tag in den Steinbruch kamen, in dem wir arbeiten mussten, nahm mich der Feuerwerker (ein Elsässer) beiseite, um mich zu fragen, was wir eigentlich für Leute seien. Die SS hatte nämlich das Gerücht verbreitet, .wir seien Schwerverbrecher mit langjährigen Haftstrafen, und die Bevölkerung vor jeglicher Kontaktaufnahme gewarnt.
Ich habe ihn davon überzeugt, dass uns nichts anderes als die falschen Vorfahren vorgeworfen wurde (wir waren etwa 600 Juden) und diese Nachricht muss sich blitzschnell in den umliegenden Dörfern verbreitet haben. Jedenfalls wurden uns später beim Durchmarsch durch Ortschaften regelmäßig Butterbrote und Äpfel zugesteckt; unsere Wachtposten übersahen das freundlicherweise.
Wir wurden einmal mit einem Posten zu viert auf einen Lastwagen geladen, um in einem anderen Ort, in den wir normalerweise nicht kamen, eine Maschine abzuholen.
Beim Warten auf dem Wagen sahen wir eine ältere Frau, die eine Schubkarre mit gekochten, ungeschälten Kartoffeln schob. Wir sprangen vom Wagen und fielen über die dampfenden Kartoffeln her und stopften uns so schnell wie möglich voll. Wir erwarteten natürlich nicht, dass man das zulassen würde, aber was wir im Magen hatten, konnte uns niemand mehr abnehmen.
Unser Posten begriff, dass wir nicht am Durchbrennen waren, was ihm Schwierigkeiten bereitet hätte, und wandte sich ab.
Die Frau war entsetzt, dass Menschen so ausgehungert waren, dass sie das Schweinefutter fraßen; sie ließ die Karre stehen und kam nach ein paar Minuten mit gut belegten Butterbroten und einer Tüte Äpfel für uns zurück.
Wenn auch Misshandlungen ausblieben, die Überlebenschancen in Echterdingen waren schlecht. Das hatte einerseits mit der Kälte zu tun, andererseits mit der fehlenden Hygiene.
Der Hangar war viel zu hoch um heizbar zu sein, selbst wenn reichlich Brennstoff verfügbar gewesen wäre, unsere Kleidung völlig unzureichend und die Decken zu wenig und zu dünn, die Unterernährung machte die Kälte noch schwerer erträglich.
Es war kaum genügend Wasser zum Trinken da; Waschgelegenheit gab es keine. Läuse dagegen gab es im Überfluss, vermutlich aus den Strohsäcken, und die verbreiteten Typhus.
Von den etwa 600 Häftlingen, die im Dezember nach Echterdingen kamen, waren zwei Monate später noch etwa 250 am Leben.
Die Leichen wurden im Wald verscharrt, denn der Fama zufolge hatte sich das Stuttgarter Krematorium geweigert, sie ohne ordnungsgemäße Totenscheine in Empfang zu nehmen.
Es kann aber auch sein, dass denen die Kohlen ausgegangen waren. Ich habe selbst beim Aufladen der steifgefrorenen nackten Leichen geholfen; einer davon war unser einziger Häftlingsarzt. Wir hatten uns nicht getraut, dem Lagerführer zu sagen was los war, denn wir fürchteten, zusammen mit der Kleidung desinfiziert zu werden.
Vermutlich wurde doch bekannt, dass Typhus herrschte; trotzdem wurden wir im Januar 1945 einfach in ein anderes Lager verfrachtet, nämlich nach Ohrdruf in Thüringen.
Ich bedauerte das sehr, denn wir hatten bereits Fluchtpläne. In Auschwitz war das sinnlos, wir waren viel zu weit weg und die dortige Bevölkerung hätte uns lieber verpfiffen als geholfen; das gilt sowohl für Deutsche als für Polen.
Die Alliierten standen am Rhein. wir rechneten mit einer Frühjahrsoffensive, sodass es eigentlich nur galt, rechtzeitig aus dem Lager zu entkommen und sich ein paar Tage zu verstecken.
Wir mussten aber darauf warten, dass das Vieh wieder auf die Weide kam, was uns Milch verschafft hätte, denn ich konnte melken.
Vor der Bevölkerung fürchteten wir uns nicht, obwohl wir nicht auf aktive Hilfe rechneten.
Als die Offensive dann Süddeutschland im Schnelltempo überrollte, waren wir leider weit weg.
Wie gesagt, waren wir in Echterdingen völlig verdreckt und verlaust; das hatte unter anderem zur Folge, dass unsere Wunschträume sich nicht mehr ausschließlich um Essen drehten, sondern vor allem um saubere Betten, saubere Kleidung und warme Zimmer.
Unterernährung debilisiert; die Gespräche kamen kaum über Wunschdenken und die täglichen Banalitäten hinaus. Ich war mir dieses Effekts durchaus bewusst, was ihn aber auch nicht erträglicher machte; im Krankenbau in Auschwitz habe ich mit einer kleinen Gruppe gleichgesinnter verschiedentlich den Versuch gemacht, über andere Themen zu reden oder auch um miteinander englisch zu sprechen, aber das konnte keiner von uns länger als ein paar Minuten durchhalten. (Als ich zu den Amerikanern kam, konnte ich auf einmal wieder englisch reden!)


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[1] Das Gelände ist zwar Teil der Gemarkung Filderstadt-Bernhausen, es hatte aber von Anfang an den Namen „KZ-Außenlager Echterdingen“, da der Stuttgarter Flughafen mit dem Namen Echterdingen verbunden ist.
[2] Bericht von Robert Wolf, S.15, StA Filderstadt.
[3] So formuliert es der Zeitzeuge Michael O., der den „Sträflingszug“ vom Steinbruch zum Flughafen als achtjähriger Junger mit ansehen musste (Brief liegt dem Autor vor).
[4] Wiesel, S.67.
[5] Wiesel, S.127f.
[6] ZS, Akte B 162/3955.
[7] Das Verteilen von Essen als nachträgliche Schutzbehauptung der Zivilbevölkerung und damit als Unwahrheit abzutun, ist nicht angebracht. So ist zum Beispiel von dem Echterdinger Malermeister Karl A. überliefert, dass er selbst als KPD-Mitglied im KZ Heuberg interniert war und deshalb am Kriegsende den Häftlingen von Echterdingen geholfen hat (Tagebuch von Karl A, Stadtarchiv Leinfelden-Echterdingen). Auch viele einfache Bäuerinnen und sonstige Einwohner hatten Erbarmen mit den Männern und steckten ihnen „regelmäßig“ (Robert Wolf, S. 14, StA Filderstadt) Essen zu. Daneben ist ein Beispiel von Tauschhandel bekannt. Der damals zehnjährige Horst Loop aus Sielmingen erzählt, dass er damals mit Freunden häufig zum Steinbruch in Bonlanden gegangen sei, wo Häftlinge des KZ Echterdingen arbeiteten. Dort habe man Kartoffeln, die die Kinder auf den Feldern aufsammelten, gegen Holzpanzer oder Holzvögelchen getauscht, die die Häftlinge im Lager geschnitzt hatten (Brief von Horst Loop an Autor vom 3. November 2005).
[8] Laut Aussage Henry Ehrlich, ZS B 162/3955.
[9] Tatsächlich taucht im Nummernbuch ein Mendel Goldberg auf, dessen Nationalität zutreffend als Pole angegeben wird. Er war zur Lagerzeit in Echterdingen 38 Jahre alt und ist später nach Ohrdruf verlegt worden. Diese letzte Information deutet übrigens darauf hin, dass es mindestens zwei Lagerärzte gegeben hat. Robert Wolf berichtet nämlich, dass er in Echterdingen selbst tote Häftlinge auf den Lastwagen habe aufladen müssen, „einer davon war unser einziger Häftlingsarzt.“ (Bericht von Robert Wolf, S.14, StA Filderstadt).
[10] ZS B 162/3955, Aussage René Romann.
[11] Aussage Henry Ehrlich, ZS B 162/3955.
[12] Am 9. und 10. Januar 1945.
[13] So die Schreibkraft des Rathauses Bernhausen, Lydia A.: Als Todesursache sei auf dem Zettel, den sie vom Lagerkommandanten erhalten habe, grundsätzlich Ruhr vermerkt gewesen (ZS, B 162/3955). Ruhr wird bei mangelnder Hygiene durch Bakterien übertragen und ist eine Darmerkrankung, die sich in heftigen Durchfällen, Fieber und Erbrechen äußert.
[14] So Henry Ehrlich, ZS B 162/3955. Ehrlich hatte damals die Todeskartei zu führen. Fleckfieber, früher auch Flecktyphus genannt, wird durch Läuse übertragen. Es kommt zu hohem Fieber mit heftigen Kopf- und Gliederschmerzen, Atemwegs- und Herzerkrankungen und Kreislaufschwäche. Häufig tritt eine Gehirnentzündung hinzu.
[15] Keuerleber-Siegle, S.135ff.
[16] Siehe dazu Wegner, S.68ff.
[17] Aussage Isaak Borenstein, ZS B 162/3955.
[18] Bericht Robert Wolf, S.13, StA Filderstadt.
[19] Aussage René Romann, ZS B 162/3955.
[20] So die Rathaussekretärin Lydia A.: Der Lagerführer sei zum Bürgermeister gekommen und habe ihn aufgefordert, die Verteilung von Essen durch die Bevölkerung zu unterbinden. „Es wurde dies unter Androhung schwerer Strafe verboten. Die Bernhäuser Bevölkerung schreckte diese Maßnahme nicht ab, sondern sie brachte den Juden das Essen an ihre Arbeitsstelle. Auch dagegen wollte sich der Lagerführer noch wehren, aber als ich ihm sagte, er solle doch froh sein, wenn seine Leute etwas zum Essen bekämen, ließ er es gewähren.“ (ZS B 162/3955).
[21] Tagebuch von Karl A., im StA Leinfelden-Echterdingen.
[22] Laut einer Zeugenaussage des Flakhelfers K., dokumentiert durch Silberzahn-Jandt, in: Pfarrberg, S.219, Fußnote 7.
[23] Bericht von Robert Wolf, S.14, StA Filderstadt.