Zermahlene Geschichte [Weimar 1997 - 2003] Imprimir E-mail

Hoheisel & Knitz


Zermahlene Geschichte – Crushed History [Weimar 1997 – 2003]


 


 


 

Abschluß der Arbeit am 9. November 2002 im Marstall, Weimar

 


 


 


 

Zermahlene Geschichte [Weimar 1997 – 2003]

Marstall in Weimar. Seit 1951 nutzt das Thüringische Hauptstaatsarchiv das klassizistische Gebäude neben dem Stadtschloß in Weimar. Nach der politischen Wende 1989/1990 mussten Massen von Schriftgut der DDR-Zeit aufgenommen werden. Der Marstall-Komplex sollte erweitert und grundlegend saniert werden. Einer Erweiterung in den Innenhof des Marstalls mit dem Bau eines modernen Magazinuntergeschosses standen aber zwei denkmalgeschützte Gebäude aus der Nazi-Zeit im Wege: eine zum Gefängnis umgebaute Wagenremise, sowie eine provisorisch errichtete Verwaltungsbaracke der GESTAPO-Leitstelle Thüringens [1936 – 1945]. Das Provisorium sollte bis zum Umzug der GESTAPO in das geplante Gauforum in Weimar bestehen. Soweit kam es nicht und noch 1945 übernahm der sowjetische NKWD [Volkskommissariat für innere Angelegenheiten] die ehemalige GESTAPO-Zentrale. Bis zum Jahre 1950 wurden hier vor allem politische Gegner des Regimes inhaftiert, verhört und in Lager und Gefängnisse abtransportiert.
Ein internationaler Kunstwettbewerb sollte 1996 klären, welches Geschichtszeichen die Wegnahme der denkmalgeschützten Gebäude vertretbar macht. Wir wurden beauftragt unser Konzept zu realisieren:
Der für den Neubau des Magazinuntergeschosses notwendige Abbruch der GESTAPO-Baracke und des Gefängnisbaus wurde öffentlich gemacht. Wir sicherten zuvor Sachbeweise Gebäuden: Türen, Zellengitter, Strohsäcke, Fenster, usw. Kleinere Gebäudeteile, wie Türgriffe [die GESTAPO-Baracke hat einen Bauhaus-Türgriff], Türnummern, Lichtschalter, Dachpappe, Ziegel, Blechgefäße, Alarmklingel, Tapetenstücke brachten wir als Asservate in die zur Aktenaufbewahrung üblichen Archivkartons und bewahren diese im Staatsarchiv auf. Am 5. November 1997 wurden die Gebäude in einer öffentlichen Kunstperformance mittels eines Brechwerkes zu Holzschnitzeln und Mauerwerksgranulat zermahlen. Das Material wurde während der gesamten Bauzeit vor dem Marstallgebäude in zwei Containern [Form und Farbe wie Archivschachteln] zwischengelagert. Die Container tragen Fotos der Baracke bzw. des Gefängnisses und eine von den Archivdirektoren beschriftete Inhaltsangabe:


 

Zermahlene Geschichte 1936 – 1997 [Baracke] und 1875 – 1997 [Gefängnis]

Nach Abschluss der Bauarbeiten des Magazinuntergeschosses wurde am 9. November 2002, fast auf den Tag genau fünf Jahre nachdem wir die ehemaligen Gestapo-Gebäude im Hof des Marstalls zermahlen haben, die ZERMAHLENE GESCHICHTE, wieder auf die Grundrisse der ehemaligen Gestapo-Gebäude als begehbare Skulptur aufgeschüttet.
Die Grundrisse der beiden Gebäude wurden als unterbrochene Kontur im Hof sichtbar gemacht. Ein vertikaler Blickbezug, über einzelne Sicherheitsglasschlitze in das darunter liegende neue Magazinuntergeschoss des Hauptstaatsarchivs wurde hergestellt. So wird nicht in Form eines herkömmlichen Denkmals zur Erinnerungsarbeit aufgefordert, sondern im Hinweisen auf eine aktive Auseinandersetzung mit den Dokumenten des Archivs. Zu dessen Beständen gehören Goethes amtliche Korrespondenz und die Bauhausakten, aber auch die Buchenwaldkartei. Die gesamte Baugeschichte Weimars ist in der Architektur des Marstalls vorhanden. Wir schrieben Jahreszahlen sichtbar auf die dem Hof zugewandten Gebäudeteile auf. Auch auf die mittelalterliche Kalksteinmauer [Rückwand des ehemaligen Gefängnisses]. Sie zeigen die historische Entwicklung des Ortes. Die Jahreszahlen 1936 bis 1952 erscheinen auf keiner Wand. Sie sind auf dem nachgezeichneten Grundriss der verschwundenen Gebäude zu lesen.
Fünf Jahre waren die geschredderten Gestapogebäude als ZERMAHLENE GESCHICHTE vor dem Portal des Marstalls als Skulptur in Containern zwischengelagert. Jetzt wird sie unter den Schritten der Mitarbeiter, Besucher und Benutzer des Archivs langsam weiter zermahlen. Eine Videoinstallation in einem der beiden Container zeigte bis zum Entleeren der Container 2002 den Prozess des Zerschredderns, des Zermahlens. Über die verspiegelten Dachinnenflächen der Container waren auch die dort lagernden Gebäudematerialien Stein und Holz zu sehen. Die Container wurden im Kulturstadtjahr Weimar 1999 von Mitarbeitern des Archiv-Wachdienstes täglich geöffnet. Die Mitarbeiter waren in diesen Kunstprozess eingebunden. In den noch erhaltenen GESTAPO-Gefängniszellen im Keller des Hauptgebäudes wird seit 12. April 1999 eine Dauerausstellung des Staatsarchives zur GESTAPO-Geschichte des Ortes gezeigt, sowie eine Asservatenausstellung von Hoheisel & Knitz mit den vor dem Abbruch sichergestellten Gebäudeteilen.

Horst Hoheisel und Andreas Knitz


 


 

 

 

 

Zurückschütten der ZERMAHLENEN GESCHICHTE - Throwing Back the CRUSHED HISTORY


 

Katalog
 

Zermahlene Geschichte – Kunst als Umweg
Projekte von Horst Hoheisel und Andreas Knitz


 

 

 

 

Inhalt/Themen [u.a.]: Schreddern der Gebäude im Marstall-Innenhof;
Wärmeplatte in Buchenwald; Aschrottbrunnen in Kassel; Denksteinsammlung Kassel;
Die Tore der Deutschen – Lichtinstallation Auschwitz-Tor auf Brandenburger Tor;
»Deutsche Boden« - Deutsche Böden. 168 Seiten, mit einem Vorwort des
thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und mit Texten von
Norma Drimmer, Volkhard Knigge, Bernhard Post, Manfred Schneckenburger,
Dirk Schwarze, Eva Schulz-Jander, Yehudit Shendar, Jochen Spielmann, Volker Wahl,
James E. Young. 230 Abb. [S/W, Farbe] Auflage 1000 Stück, handgestempelt,
numeriert und signiert. [ISBN 3-00-004816-2]
Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs, Weimar 1999

MULTIPLE Asservatenbeutel mit eingeschweißtem Mauerwerksgranulat und
Holzschnitzeln der GESTAPO-Gebäude, Unterschriftenmappe mit Fotos und
Dokumenten in einer Archivschachtel. Dokumente und Fotos über den noch
laufenden Kunst-Prozess werden den Erwerbern des Multiple
von den Künstlern zur Archivierung in der Unterschriftenmappe zugeschickt.
Auflage 1000 Stück, numeriert und signiert [39x29x11cm].
 


 

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